Tabu Alkoholsucht
In Deutschland wird gerne Alkohol getrunken, besonders Bier. 96,4 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 64 Jahren trinken Alkohol. Egal zu welcher Gelegenheit. Beim Fußballspiel, vor dem Fernseher, auf dem Weinfest, der Kirchweih, bei Volksfesten, Discoabenden und Junggesellenabschieden. Der Alkoholkonsum ist ein zentraler Bestandteil in der Gesellschaft, weil er entspannt, enthemmt und die Stimmung hebt. Doch nicht selten gehen Grenzen verloren. Erwin Wassermann outet sich als Ex-Alkoholsüchtiger. GAYCON sprach mit ihm über seinen persönlichen Abstieg in die Sucht - und seinen langen Weg zurück in die Freiheit.
Die gesundheitlichen Folgen übermäßigen Alkoholkonsums dürften in unserer Gesellschaft wohl jedem bekannt sein. Trotzdem gibt es einen unterschwelligen Gruppenzwang. Wer bei einer Einladung z.B. ein Glas Sekt ablehnt und lieber bei Wasser, Apfelschorle oder dem Alkoholfreien bleibt, wird oft belächelt und gilt als Außenseiter. Dass man noch Auto fahren muss, wird gerade noch als Grund akzeptiert. Ansonsten reagieren die Spender allzu gerne gekränkt. Vermutlich wissen die meisten Gewohnheitskonsumenten nicht einmal, dass sie schon als „süchtig“ gelten. Denn die Grenze zwischen Genuss und Gefahr ist eng, wie die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) e.V. aufklärt: Wer täglich einen Liter Bier trinkt, befindet sich bereits im Risiko, alkoholabhängig zu werden. 30 bis 40 Gramm reiner Alkohol für Männer und 20 Gramm täglich für Frauen gelten als Grenze für körperliche Folgeerkrankungen. Etwa 1,61 Millionen Männer und Frauen zwischen 18 und 64 Jahren trinken hierzulande missbräuchlich Alkohol. 1,77 Millionen sind abhängig. Ungefähr 9,5 Millionen Deutsche gefährden ihre Gesundheit durch den überhöhten Konsum, denn nur eine sehr geringe Menge gilt als gesund. Die Alkoholsucht ist eine seelische Erkrankung, die jeden treffen kann. Sie betrifft Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, junge und alte, Frauen wie Männer. Der sogenannte Spiegeltrinker konsumiert eher geringe Mengen Alkohol, allerdings kontinuierlich über den ganzen Tag verteilt. Dieser Typ hält so eine gewisse Konzentration im Blut aufrecht, um keine Entzugserscheinungen zu spüren. Der Rauschtrinker kann sein Trinkverhalten nicht zügeln. Er gewöhnt sich an eine immer höhere Menge Alkohol. Diese chronische Form tritt am häufigsten auf. Selten ist der Konflikttrinker, der nur dann übermäßig trinkt, wenn Probleme oder Konflikte auftreten. Hier dient Alkohol zur Bewältigung von Schwierigkeiten. Der episodische Trinker bleibt einige Wochen abstinent und trinkt nur phasenweise exzessiv.
Teufelskreis
„Mein Weg in die Sucht war am Anfang klassisch. Vorglühen beim Discobesuch, um sich Mut anzutrinken. Als Ritual regelmäßig zur Entspannung mehrere Feierabendbierchen mit den Arbeitskollegen. Ich war gut dabei, hatte aber das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben“, erinnert sich Erwin Wassermann, gelernter Kaufmann im Verkehrswesen. „Doch vor 10 Jahren fingen die Probleme an. Mein Partner trennte sich von mir, wegen meines Alkoholkonsums. Gleichzeitig hatte ich psychische Probleme, weil ich schnell in meinem Job aufgestiegen war. Es lastete Druck und Verantwortung auf mir. Außerdem fühlte ich mich dort als Prellbock für alle. In dieser Zeit wurde der Alkohol mein Freund, meine Lösung, mein Medikament. Anfangs hat es funktioniert. Es war alles wunderbar, noch brauchte ich keinen Psychologen.“ Und dann hat er sich doch Rat geholt. Vom Psychologischen Dienst seines Arbeitgebers bekam er eine Entwöhnungstherapie empfohlen. Die dreimonatige Maßnahme war freiwillig und keine Pflicht. „Ich habe mit dem Trinken aufgehört. Es war alles kein Problem. Allerdings habe ich mich auf den letzten Tag gefreut, um endlich wieder ein kaltes Bier genießen zu können. In meinem Kopf hat es nicht Klick gemacht. Meine persönliche Erfahrung ist, die Therapie alleine bringt nichts, man muss es auch wollen“, betont Erwin. Er trickste sich selbst aus, wechselte einfach die Art des Getränks. „Die letzten drei Suchtjahre habe ich nur Sekt getrunken. Das ist gesellschaftsfähiger, weil die meisten Menschen denken, Alkoholsüchtige würden sich wie Penner benehmen. Manchmal hatte ich bis zu acht Piccolos intus und habe das auch nicht versteckt. Aber ich merkte, dass es immer mehr körperlich bergab ging. Deshalb nahm ich nun psychiatrische Hilfe in Anspruch. Doch die Gewichtszuname durch die Medikamente, der Frust beim Blick in den Spiegel, alles hat mich nur dazu animiert, noch mehr zu trinken.“
Endstadium?
Anfang 2016 hatte Erwin keine Kraft mehr, außer Haus zu gehen. Er schaute nur noch, ob genug Alkoholvorräte vorhanden waren. Feste Nahrung hat sein Körper nicht mehr behalten. Die Leberwerte sind aufs 500fache explodiert. Die Hausärztin machte ihm deutlich, dass er das Jahr nicht überleben würde. „Ich habe nur noch gezittert, hatte Schweißausbrüche und meine Gedanken drehten sich nur noch um den Alkohol-Nachschub. Einen Ausstieg hielt ich für unmöglich. Wochenlang habe ich darüber nachgedacht. Sollte ich mich stationär einweisen lassen? Denn ein Ausstieg alleine wäre lebensgefährlich“, erzählt Erwin. „Ende Mai 2016 hatte ich mir die ganze Nacht über Mut angetrunken. Vier Promille gaben mir das Gefühl, mir gehört die Welt. Von ursprünglich 88 Kilogramm blieben mir noch 60, als ich in die geschlossene Psychatrie in Erlangen ging.“ Nun wurde Erwins Körper innerhalb von zwei Wochen mit einer Anfangsdosis von 12 Tabletten pro Tag entgiftet. Das Angebot einer Langzeittherapie lehnte er ab, er wollte es sich selbst beweisen. „Ich nutzte die Zeit, um über mich und mein Leben nachzudenken. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, bei einem Misserfolg nie mehr in die Klinik zu gehen. Alle Insassen kannten sich aus anderen Einrichtungen. Die Fenster waren vergittert. Nachts hallten Schreie durch die Station“. Diese Erfahrung prägte bei Erwin den Entschluss, nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol anzurühren. „Ich spazierte nun jeden Tag entlang am Main-Donau-Kanal. Aus Steigerungen von 20 über 30 auf 40 km pro Tag folgte der Einstieg in den Jogging-Sport. Gleichzeitig wurden diese Aktivitäten nebenbei zu einem unfassbaren Glück. Denn Anfang August letzten Jahres wurde mir ein Schlaganfall ohne Lähmungserscheinungen diagnostiziert. Bedingt durch die viele Bewegung hat sich das Gerinnsel aber von selbst wieder gelöst. Doch mir ist nun klar, wie schnell das Leben vorbei sein kann.“
Neuanfang
Erwin erinnerte sich an seine Jugendzeit. Schon mit sieben Jahren war er Mitglied im Fußballverein. Durch den Sport fühlte er sich damals viel fitter. Nun hat er die Lust wieder gefunden. Allerdings wollte er jetzt zu schnell zu viel. Sein erwachsener Körper war das nicht mehr gewohnt. Im Taumel des plötzlich hohen Bewegungspensums hat er sich das Knie gebrochen. Mit einer Sportprothese hielt ihn das nicht ab, sein neues Fitnessprogramm weiterzumachen. „Noch wollte ich überwiegend allein sein. Ich entdeckte das Fitnessstudio mit dem wetterunabhängigen Laufband, war dort ganz allein um neun Uhr früh. Erst danach folgten langsam die anderen Geräte. Schnell veränderte sich mein Körper und mein neues Spiegelbild gefiel mir. Das hat mein Selbstbewusstsein gestärkt“, betont Erwin, der bekennender FC Bayern- und gleichzeitig Club-Fan ist. „Ich musste mich bremsen. Inzwischen halte ich mich diszipliniert an meinen Trainingsplan inklusive der Ruhepausen. Seit Januar habe ich auch den Boxsport ausprobiert. Hier entstand mein neues Lebensmotto ‚nicht aufgeben‘, das habe ich mir als Tattoo mit ‚never give up‘ stechen lassen. Denn erst wenn man liegen bleibt, ist es vorbei. Egal ob im Spiel oder im Leben.“ Nun könnte man meinen, Erwin hat die Alkoholsucht gegen eine Art Sportsucht eingetauscht? Sport hat für ihn nur einen sehr hohen Stellenwert, mindestens ein bis zwei Stunden täglich, und ist ein neuer Ankerpunkt im Leben. Viele erkennen ihn als Person nicht wieder und er bedauert, zehn Jahre seines Lebens „weggeschmissen zu haben“. Seit einigen Monaten nimmt er auch wieder verstärkt am Gesellschaftsleben teil. Er engagiert sich im Vorstand des Rosa Panther Vereins und ist beim 1. FCN Fan Club der Norisbengel immer dabei. „Natürlich will ich Alkohol nicht verteufeln. Die meisten haben nicht den Mut, sich ihre Sucht selbst einzugestehen. Mein größter Respekt gilt allen, die es geschafft haben, sich daraus zu befreien. Man kann dann unglaublich stolz auf sich sein“, betont Erwin. „Mein Wunsch ist, dass mein Coming out eine Motivation für einige Menschen ist, etwas für sich zu tun. Vor allem zu zeigen, dass es überhaupt möglich ist, sich aus so einer Lage zu befreien. Eine Portion Ehrgeiz gehört dazu. Denn einen Marathon läuft man auch nicht so einfach. Es ist harte Arbeit an sich selbst. Der Prozess erfordert Willensstärke. Das sicherlich Abschreckenste ist der Rückzug ins Private zu Beginn, erstmal keine Kneipe und keine Disco. Sinnvoll ist eine Langzeittherapie und das Schwierigste ist, den bisherigen Lebensstil zu ändern. Man darf nie ‚nie‘ sagen, denn die Alkoholsucht ist eigentlich unheilbar. Mir geht es heute ohne Alkohol besser. Inzwischen hat sich bei mir ein Ekel gegen Alkohol-Duft entwickelt. Fazit: wenn mein Erfahrungsbericht nur einem einzigen Menschen hilft, dann wäre das schon toll.“
Text/ Foto Norbert Kiesewetter
Kontakt zu Erwin per Mail
Quelle:
- Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) e.V.