Chronologisch von oben nach unten: Schlüsselübergabe (2024), 30 Jahre Cartoon (2019), 25 Jahre Cartoon (2014)
Schlüsselübergabe
Die 35jährige Cartoon-Geschichte wird weitergeschrieben
Die gute Nachricht vorweg: Das Café Bar Cartoon bleibt als Treffpunkt für die queere Community in Nürnberg und der Region erhalten. In den letzten Wochen wurde hinter den Kulissen um jedes Detail verhandelt. Auch mit der Hausverwaltung gelang es letztlich, die Klippen zu umschiffen. Nun fand am ersten Juli-Donnerstag die offizielle Übergabe des Staffelstabs in den Räumen des Cartoons statt. Wir stellen euch die neuen Besitzer Daniel und Steffen vor. Mit Olaf und Thomas schwelgen wir nochmal in ihren schönsten Erlebnissen der letzten 23 Wirte-Jahre.
„Die Übernahme war ein steiniger Weg. Zwei Monate dauerten die Verhandlungen. Dann gab es noch Urlaubspausen in der Hausverwaltung. Aber mit Geduld ist jetzt alles final eingetütet“, berichtet Steffen Rieger. „Wir wollen noch im Juli wieder eröffnen. Wir haben schon ein Bild vom neuen Cartoon. Die zwei Areas sind ausbaufähig zur Event Bar. Das Cartoon hat schon immer dieses Alleinstellungsmerkmal in der Nürnberger Szene. Auch wollen wir die gleichen Tages-Öffnungszeiten übernehmen.“ Natürlich sind Veränderungen geplant, aber die neuen Betreiber möchten die Stammkundschaft nicht mit einem komplett veränderten Design konfrontieren. In den nächsten zwölf Monaten steht zunächst die Modernisierung der Sanitäranlagen im Ausbauprogramm. Donnerstags soll zukünftig eine After-Work-Party stattfinden. Für Freitag und Samstag überlegen sie, sogar bis fünf Uhr früh aufzumachen.
Franken statt NRW
Steffen Rieger (42) ist gelernter Kommunikationselektroniker, arbeitet heute als IT Kaufmann im Bereich Glasfaser, Installation und Trassenbau. Daniel Jäcklin (25), gelernter Lagerist, hat bereits Erfahrung in der Gastronomie. Die zwei kennen sich seit über drei Jahren, seit eineinhalb Jahren sind sie ein Paar und leben heute in Wendelstein. Über die berühmten blauen Internetseiten haben sie sich kennengelernt. Daniel kommt eigentlich aus dem Augsburger Raum. Dort hatte er schon eine Pilsbar mit seinem früheren Partner. Durch dessen Tod brach Daniel seine Zelte im Schwabenland ab und wollte ursprünglich zu seiner Oma nach Nordrhein-Westfalen. Doch Steffen überzeugte ihn vom Frankenland. Als Daniel auf Jobsuche war, kam er in den Service der Nürnberger Szenegastronomie u.a. auch schon Anfang 2023 ins Cartoon. „Schon damals hat ihm die Arbeit im Nürnberger Cartoon gefallen, weil es einen Wohlfühlcharakter besitzt. Doch das Ziel für eine Selbständigkeit in der Gastronomie wurde nach der Suche des passenden Objekts in Neumarkt gefunden“, erinnert sich Steffen. „Dann hatten wir heuer von der Schließung des Cartoons gehört. Wir haben uns als Interessenten direkt bei der Hausverwaltung gemeldet.“
Lokal über Nacht geschlossen
23 Jahre lang waren Olaf & Thomas Schulmeistrat das Wirte-Paar vom Cartoon. Plötzlich blieben die Türen zu. Als Hauptgrund nannten sie ‚Gesundheitliche Gründe‘, quasi den Auslösefaktor für die ganze Geschichte. Aber die Gerüchte-küche in der Community brodelte hoch wie in einem Schnellkochtopf. Doch die Umstände der abrupten Schließung kurz vor Ostern 2024 sind nur in einem komplexen Zusammenhang zu verstehen. Ein Knackpunkt ereignete sich bereits 2022, als der langjährige Steuerberater verstarb. Olaf suchte vergeblich nach einem Nachfolger, doch alle lehnten ab. Einen Kunden aus der Gastronomie-Branche übernimmt aufgrund der umfangreichen Vorschriften kaum einer gern. Thomas war zu diesem Zeitpunkt schon länger gesundheitlich sehr angeschlagen, weshalb ihn Olaf nicht zusätzlich mit diesem Problem belasten wollte. Damit wuchsen die Herausforderungen für Olaf, der eigentlich hauptberuflich bei Siemens beschäftigt ist, auf ein Pensum an, bei dem er „nur noch funktionierte“. Service-Personal war in der Nach-Corona-Zeit kaum noch zu finden. So stand er sogar sonntags noch selbst im Café. „Während der Arbeit bei Siemens dachte ich permanent auch daran, was ich alles noch für das Cartoon bestellen oder erledigen muss. Oder plötzlich meldete sich Personal krank. Ich hab‘ nur noch alles abgearbeitet, nur noch funktioniert“, betont Olaf. Das eigentlich wichtige Befassen mit amtlichen Formalitäten passte schlicht und einfach weder zum Zeitbudget noch zur psychischen Belastbarkeit, was in der letzten Konsequenz dann zu der spontanen Schließung führte. „Ich hätte ja auch nach einem Steuerberater suchen können, aber Olaf wollte mich schonen, hatte mir nichts erzählt. Es war uns furchtbar peinlich“, betont Thomas. „Aber für uns als Paar, privat und in der Beziehung, war es das Beste, was uns passieren konnte.“ Denn damit fiel ihnen der Entschluss leichter, sich früher als geplant aus dem Geschäft zurückzuziehen.
Schöne Erinnerungen
„23 Jahre kann man nicht wegwischen. Natürlich haben wir geheult wegen der Bericht-erstattung in der Zeitung. Es war unser Baby. Es war eine schöne Zeit. Wir haben tolle Leute kennengelernt, Erfahrungen mit der Szene, mit den Nachbarn“, betont Thomas. „Früher war sieben Tage die Woche offen. Das Lokal nie wegen Urlaub zu. Uns ist wichtig, dass es für die Szene weitergeht, für die Community.“ Es fällt ihnen schwer, ihr Baby aus der Hand zu geben, aber mit dem Wissen, der Treffpunkt bleibt erhalten, können sie nun leichter loslassen. In den 23 Jahren gab es viele Höhepunkte, an die sie sich heute noch gerne erinnern. „Ein Highlight waren die Jacob Sisters mit ihren Pudeln. Wir waren Sponsor beim AIDS-Hilfe Jubiläum. Geplant war ein Auftritt von 20 Minuten. Daraus wurden zwei Stunden. Damals waren noch Sofas im Café, die stellten wir beim Nachbarn unter. Die Gäste saßen dann auf Bierbänken im ganzen Lokal, am Fenster war die Bühne, in einem Zelt vor dem Haus“, erinnert sich Olaf. „Oder unsere Hochzeit 2003. Das ganze Programm war eine Überraschung. Wir waren auf der Titelseite der Abendzeitung.“ Die Liste der Erinnerungen könnte man endlos fortschreiben: Mit einer Cowboyparty zum Film „Brokeback Mountain“. Entenessen am Heiligabend, einem Bauhoffest bei schlechtem Wetter, Schlampenfesten, CSD-Partys, ESC-Spannungsmomenten oder Ledertreffen. In der Kiste der Emotionen liegt auch die Fußball-WM in Deutschland 2006, Nürnberg war Austragungsort mit Spieltag der Engländer in der Stadt. Das Cartoon hatte damals noch keinen Beamer. „Hüseyin wollte unbedingt, dass wir ein TV-Gerät aufstellen. Da stand in der Ecke nun ein kleiner Fernseher. Und dann kamen die Engländer. Mein Englisch war eine Katastrophe. Wir hatten Angst, solche Angst, es könnten Hooligans sein. Wenn die merken würden, in welcher Art Kneipe sie sind. Dann war plötzlich der Laden voll. Und wir wurden leer gesoffen“, erinnern sich die zwei. „Als der Fernseher kurz aussetzte, sangen alle Engländer spontan ‚Y.M.C.A‘. Das war so lustig, also wussten sie, wo sie waren. Daraus wurde eine tolle Party bis in den frühen Morgen. Ein riesen Erlebnis.“
Eine topaktuelle Emotion traf uns just beim Fotoshooting für diesen Bericht. Einige junge Leute aus der Community erblickten uns und jubelten vor Freude, als sie hörten, dass der beliebte Szene-Treffpunkt nun bald wieder geöffnet wird. „Wir gehen mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit unserem neuen Wohnmobil sind wir jetzt öfters unterwegs. Das Fahrrad hat einen Anhänger für unseren Hund bekommen. Es ist eine neue Zeit. Die Alten gehen, die Jungen kommen“, betonen die Schulmeistrats. „Wir wollten ursprünglich das Lokal immer den Jungs vom Team übergeben. Eine Übergabe war immer mal wieder angedacht“. Aus unterschiedlichen Gründen erfüllte sich dieser Wunsch bei keinem der angedachten Kandidaten. Ihr Fazit für das Leben in der Gastronomie: „Das kannst du nicht lernen, das musst du lieben! In diesem Sinne bedanken wir uns bei allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, bei allen Aushilfen, bei all unseren Gästen und überhaupt bei den Menschen, die uns wohlgesonnen waren, für die Freundschaft und die Treue in den vielen Jahren. Es war wirklich eine tolle Zeit. Danke, Danke, Danke…“.
Text/ Fotos: Norbert Kiesewetter
Foto: Privat
GAYCON Juli 2024
Frischzellenkur
Zum 30. Geburtstag verordnete sich das Café Bar Cartoon (An der Sparkasse 6) statt einer großen Jubiläumsparty eine Frischzellenkur. Wenn auch nicht ganz freiwillig. Nach langer Umbauzeit ist jetzt aber alles fertig. Ein fünfstelliger Betrag wurde in die neue Kühlung, den Tresen und das Lampensystem investiert. GAYCON sprach mit Wirt Olaf Schulmeistrat über die Baustellen-Odyssee und Technik-Wünsche für die Zukunft.
Begonnen hatte es schon im letzten Jahr mit einem Wasserschaden. Durch die Feuchtigkeit quoll der Holzdielenboden auf. Als Besucher spürte man deutlich die gewölbten Bretter im Tresenbereich. „Im Februar hatte ich schon das neue Lampensystem für über 1000 Euro gekauft. Wir planten, wir machen den Laden für drei Tage Umbau zu und fertig. Dass daraus mehrere Wochen werden und auch noch ein zweiter Wasserschaden passierte, war nicht vorherzusehen“, erinnert sich Olaf. Die neuen Lampen über den Sitzgruppen und dem Tresen fallen sofort auf. Sie beleuchten gezielt die Tische und streuen das Licht aber nicht ins Lokal. „Die Helligkeit ist jetzt deutlich angenehmer beim Lesen, beim Schreiben mit dem Laptop, Tablet oder Handy. Früher hatten wir noch Galerieschienen mit spezieller Beleuchtung für Bilderausstellungen. Doch es meldeten sich keine Künstler mehr. Irgendwann haben wir sie wieder abgebaut. Es gibt immer mal wieder eine Veränderung.“ Das neue Beleuchtungssystem reagiert sprachgesteuert. Olaf kann über sein Handy sowohl die Lichtfarbe als auch die Intensität regeln. Theoretisch wäre auch eine Regenbogenschaltung möglich, die jedoch beim regulären Barbetrieb nicht richtig zur Geltung käme. „Mir ist es wichtig, dass alles eine Erleichterung im Arbeitsalltag darstellt. Einzelne Licht-Schaltungen funktionieren schon automatisch, die habe ich zum Beispiel an die Öffnungszeiten angepasst. Doch mein Ziel ist es, die gesamte Beleuchtung und die Ventilatoren auf die aktuelle Tageszeit, Witterung, Temperatur zu programmieren, damit das Personal sich damit nicht mehr aufhalten muss“, betont Olaf seine Wünsche für die Zukunft.
Nachdem bei der Renovierung Ende Mai die große Feuchtigkeit unter dem Holzboden entdeckt wurde, musste erst getrocknet werden. Deshalb war der Tresenbereich fünf Wochen lang für Gäste gesperrt, wegen der Stolperfalle der fehlenden Dielen. „Der Boden war nach über drei Wochen trocken. Dank des guten warmen Wetters ging es sehr schnell. Ein Hoch auf den trockenen Sommer“, grinst Olaf. „Natürlich haben wir gemerkt, dass weniger Gäste im Lokal waren, weil die Tresenplätze fehlten. Gut, dass wir ein Tischlokal sind, bei uns setzen sich Gäste auch alleine an die Tische.“ Zur Cartoon Party gegen Ende Juli sollte der Tresen eingebaut sein, dafür musste Olaf die Handwerker ordentlich anschubsen. „Leider sind nicht alle Bestellungen für die Gewerke rechtzeitig rausgegangen, so dass wir zittern mussten, ob alles rechtzeitig fertig ist. Auch die Glasplatten-Verkleidung des Tresens nahm überdurchschnittlich viel Zeit in Anspruch, denn sie musste auf Maß geschnitten werden.“ Erst im September ist sie eingebaut worden. Auch im neuen Jahr muss das Cartoon nochmal für ein paar Tage pausieren. „Der Boden muss abgeschliffen werden. Und wir wollen neu streichen“, beschreibt Olaf, was noch zu tun ist. „Ich wünsche mir, dass wir wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen. Ohne Katastrophen, ohne Krankheit, ohne Arbeitsunfälle und ohne Wasserschäden. Einfach, dass wir mit unserem zehnköpfigen Team wieder wie gewohnt unsere Arbeit gut machen und für unsere Gäste da sein können.“
Text/ Foto: Norbert Kiesewetter
GAYCON November 2019
Das Cartoon – ein „Phänomen“ wird 25 Jahre
Die Nürnberger Szene feiert ein außergewöhnliches Jubiläum: Seit 25 Jahren existiert das ‚Café Bar Cartoon‘ hinter der Sparkasse in der Nürnberger Altstadt, unweit der Lorenzkirche. Von Anfang an als schwules Tagescafé geplant, war 1989 die große offene Fensterfront dafür revolutionär. Das Cartoon war von Anfang an innovativ und hat sich immer wieder selbst neu erfunden. Die ersten aufwendig dekorierten Szene-Mottopartys hatten hier ihren Platz. GAYCON traf sich zum großen Jubiläumsgespräch mit dem Ur-Pächter Udo Gries sowie seinen Nachfolgern Olaf und Thomas Schulmeistrat.
Die Cartoongeschichte geht auf eine zentrale Person zurück: Reinhard Härtel – Jahrgang 1948. Er war der damalige Lebenspartner von Udo Gries (54). Doch um die Hintergründe richtig zu erfassen, müssen wir das Rad der Geschichte noch weiter zurückdrehen. Udo lernte Reiner schon 1983, sechs Jahre vor der Eröffnung des Cartoon kennen. „Nach Abschluss meiner Bundeswehrzeit kam ich mit 23 Jahren wieder nach Nürnberg. Wir lernten uns im Mr Henderson (später Walfisch, heute Estragon) in der Jakobstraße kennen, welches Reiner erst ein Jahr zuvor eröffnet hatte,“ erinnert sich Udo, dem es ordentlich Überwindung kostete, für dieses Interview die ganzen alten Zeiten wieder in Erinnerung zu rufen. „In den oberen Räumen befand sich die Pension Walfisch und unter dem Dach war seine Wohnung. Das Cartoon sollte nach einer ganzen Reihe von Szenelokalen (Mr Henderson, Little Henderson, Boots, Come Back, Apollo-Sauna, Sonnige Pfalz), die Reiner ins Leben rief, zum krönenden Abschluss seines Lebenswerkes werden.“ Hier hatte er die Zukunft richtig eingeschätzt. Schwule sollten nicht mehr länger an Lokaltüren klingeln oder sich verstecken müssen. Doch mit dieser Weitsicht war er seiner Zeit weiter voraus als das Publikum – für einige Jahre wurden Jalousien und Vorhänge angebracht.
Udo, gelernter Maler & Lackierer, hatte in diesen Jahren als Vorarbeiter bei AEG gearbeitet und nur aushilfsweise in den Lokalen seines Partners mitgemacht. „Das Boots war zu klein und das Little Henderson zu eng, deshalb wurde das Come Back in der Engelhardsgasse eröffnet. Es war Reiners Lieblingskind. Als Reiner von seiner HIV-Infektion erfuhr, die damals noch einem Todesurteil gleich kam, hat er sich immer tiefer in seine Lokalarbeit geflüchtet“, erinnert sich Udo. Nach dem Come Back hatte Reiner Härtel die Sonnige Pfalz übernommen, die aber leider nicht den gewünschten Erfolg brachte. Für Udo wurde die Situation immer mehr zur Belastung. Zur Eifersucht seines Partners, die sich durch geschäftsbedingten Alkoholkonsum noch steigerte, gesellte sich zunehmend das erdrückende Gefühl, dass es kein Privatleben mehr gab. Dann wollte Reiner unbedingt sein Zukunftsprojekt noch durchziehen. Einen längerfristigen Lokalbetrieb mit weniger Alkoholkonsum in Form eines durchgehend geöffneten Tagescafés mit Abendbar und ohne Ruhetag – das Cartoon. „Ein ursprünglich in Mahagoniholz gehaltenes Heterocafé, erst ein halbes Jahr alt. An den Wänden hingen Disneycartoons. Um das Treppengeländer befand sich ein Stehtresen. Vorher war in den Räumen eine Wäscherei“, so Udo über die Anfänge. „Reiner war durch seine bisherigen Geschäfte schon hoch verschuldet und auch durch seine Krankheit belastet. So kam ich mit dem Cartoon in die Pflicht und stand drei Jahre später nach Reiners Tod alleine da. Ich habe das Lokal geliebt und verflucht zugleich.“
Das Schicksal des Cartoon ist von Höhen und Tiefen gezeichnet. Anfangs trauten sich die Gäste wegen der ungewohnt offenen Atmosphäre nicht hinein. Deshalb schufen vorübergehend viele Pflanzen, eine Jalousie und ein dicker Vorhang eine intimere Stimmung. „Ich habe dem Frieden nicht getraut und überlegte, doch eine Klingel an der Tür anzubringen. Reiner war aber felsenfest überzeugt, dass das Konzept Zukunft haben sollte“, betont Udo. Zu dieser Zeit wütete AIDS und brachte auch vielen Freunden und Bekannten den Tod. „Es war eine grausame Phase, weil es so aussah, als ob das nie mehr aufhören würde.“ Doch Reiner erlebte den beginnenden Erfolg des Lokals noch mit. Er veranstaltete Kulturabende mit Star-Auftritten und Akt-Ausstellungen, die für Wirbel unter den jetzt zahlreichen Gästen sorgten und er organisierte Ausflüge mit Stammgästen. Es war die absolute Hoch-Zeit des Cartoon. Um so das Tages- und Nachtgeschäft noch zu schaffen, kündigte Udo bei AEG. „Ohne unseren damaligen Kellner Dirk, dem ich sehr viel verdanke, wäre das Geschäft kaum zu bewältigen gewesen“, betont Udo. „Es lief all die Jahre wirklich richtig gut und es hat Spaß gemacht. Nicht zuletzt möchte ich mich an dieser Stelle nochmals bei allen meinen Gästen bedanken, die uns während der ganzen Zeit die Treue gehalten haben!“ Ende der 1990er verlagerte sich der Gästebesuch überwiegend auf das Sonntagsgeschäft. „Nach jahrelanger Gastronomietätigkeit verlangte es mich nun immer drängender nach einer Veränderung und ich beschloß, das Cartoon zu schließen oder abzugeben, sollte es Interessenten geben“, resümiert Udo Gries.
Zum Millennium 2000 erfuhren Olaf und Thomas, dass es das Cartoon nicht länger geben sollte. Thomas liebäugelte schon länger mit der Idee eines eigenen Gastroprojekts. „Wir saßen jeden Sonntag hier in der Ecke auf dem Sofa und dann spukte uns die Frage in den Köpfen: Wo sollen die Stammgäste hin, wenn es das Cartoon nicht mehr gibt? Und Olaf meinte, warum machst du es nicht? Bei einem Café hätte er nichts dagegen“, erinnert sich Thomas Schulmeistrat (49). „Zwei Wochen dauerte die Renovierung. Die Sofas spendeten wir Fliederlich und die Bistrostühle polsterten wir mit Leder neu auf. Wir haben als neues Konzept umgesetzt, dass alle Gäste willkommen sind. Dass das Cartoon mehr offen ist für Heteros und besonders für Frauen.“ Damit lenken Olaf und Thomas seit inzwischen dreizehn Jahren die Geschicke des Lokals. Damalige Kritiker, die dem Paar maximal ein halbes Jahr Durchhaltevermögen prognostizierten, sind längst verstummt. „Anfangs hatte ich Probleme mit der Personalführung, weil ich halt immer sag‘, was ich denk‘. Aber seit einigen Jahren läuft es bestens. Gastronomie kann man eben nicht lernen, das ist alles Erfahrung“, ist Thomas überzeugt. Beide hatten vorher schon neben dem Hauptberuf in verschiedenen Szenebars bedient. „Die Lage des Lokals abseits der Touristenströme bringt zwar keine Laufkundschaft, aber unsere Gäste werden dadurch auch nicht von Betrunkenen angepöbelt. Hin und wieder kommt es schon vor, dass aus einem vorbeifahrenden Auto mal ‚Schwuchteln‘ gerufen wird“, so Thomas. Mit Ironie und Witz gingen die Wirte schon mal gegen drei homophobe Gäste vor, die erst spät bemerkten, wo sie gerade waren: „So schee seid Ihr auch nicht zum Poppen“ und schließlich zum einzig noch übrigen: „Du hast alberne Brüder, lassen Dich einfach allein hier im schwulen Laden“. 2008 haben Olaf und Thomas ein Heteropaar aus Heroldsberg kennengelernt, das überzeugt war, dass ins Cartoon Heteros nicht hinein dürften. Vereinzelte Heteromänner trauen sich noch heute nur in Frauenbegleitung ins Lokal. „Es ist faszinierend und schön, dass das Cartoon die Internet-, die Gayromeo- und die strenge bayerische Rauchverbotszeit überlebt hat. Und dass es weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist“, betont Thomas Schulmeistrat. „Das Cartoon ist ein Phänomen – Ich habe am wenigsten geglaubt, dass es so lange überlebt!“ ergänzt Udo Gries, der heute als Verkäufer in einem Lotto- & Tabakgeschäft arbeitet. Auf die nächsten 25 Jahre!
Fotos/ Text: Norbert Kiesewetter
Archivbilder Privat
GAYCON JULI 2014