Schätze der Stadtkultur
„Nürnberger Kulturgeschichte – queer interpretiert“
Unter diesem Stichwort widmen sich die Künstler Ole Debovary und Spunk Seipel dem bekanntesten Dichter Nürnbergs: Hans Sachs. Die Künstler fragten sich, wie man einen neuen, queeren Zugang zu seinen Gedichten finden kann und kamen zum Ergebnis, dass man Hans Sachs überhaupt erst einmal lesen muss, bevor weitere Diskussionen zu den Werken stattfinden können. GAYCON interviewte Spunk Seipel zum Projekt, wie wichtig für ihn queere Kunst ist und woher die Liebe zur Nürnberger Kultur kommt.
Debovary und Seipel standen vor dem Problem, dass kaum jemand einen Text von Hans Sachs kennt. „Sein Werk ist für heutige Menschen sprachlich und inhaltlich schwer zugänglich. Das Bild von Hans Sachs wird seit dem 19. Jahrhundert vor allem durch die antisemitische Oper ‚Die Meistersinger von Nürnberg‘ von Richard Wagner geprägt. Der kritische Geist des Schuhmachers und Poeten bleibt über diese negative Gestaltung verborgen“, informiert Seipel. Nun sind mehrere Vortrag-Videos in einem Projekt entstanden. Dort trägt der türkischstämmige und gehörlose Ole Debovary in seiner eigenen Lautsprache Gedichte von Hans Sachs vor. Ungeübte Ohren verstehen vielleicht nicht gleich seine Aussprache, aber das soll auch die Frage reflektieren, wie man im 21. Jahrhundert Texte aus dem 16. Jahrhundert vortragen kann, ohne diese zu verfälschen. Jeder Vortrag eines Hans Sachs Gedichts ist lediglich eine moderne, individuelle Interpretation. Die Aussprache eines Gehörlosen hat hier ebenso viel Berechtigung wie die einer ausgebildeten Schauspielerin. Debovary bricht in seinen Performances mit auf der Straße gefundenen Kleidungsstücken das deutschnationale Bild von Hans Sachs, das uns heute den neutralen Blick auf seine sozialkritischen Texte verwehrt. Es ist ein Versuch, sich der Geschichte und Kultur Nürnbergs auf eine neue queere, postmigrantische Weise zu nähern und neue Akzente in der Kunstrezeption aufzuzeigen.
Zuviel Albrecht Dürer
„Ich bin in Nürnberg aufgewachsen und auch heute noch regelmäßig vor Ort. Ich bin echt dankbar, für all das, was ich dort erleben durfte. Es war zumindest in den 80ern und frühen 90ern eine wirklich tolle Stadt mit sehr viel Freiräumen und einer ziemlich großen Schwulenszene. Die Stadt ist sehr liberal, das hat meiner schwulen Entwicklung nur gut getan. Ich gehe heute noch gerne durch Fürth und Nürnberg spazieren. Gerade die Nürnberger Südstadt, Fürth und der Nürnberger Hauptbahnhof am Freitag und Samstagabend sind wirklich ganz tolle Orte, die es so in Berlin kaum noch zu finden gibt. Wirkliche Schätze der Stadtkultur“, erklärt Spunk Seipel zu seiner Verbindung mit der Frankenmetropole. „Aber als Kunsthistoriker hat mich immer geärgert, dass sich, auch in der Kulturpolitik, viele nur auf Albrecht Dürer konzentrieren. All die anderen wirklich beeindruckenden Künstler des 16. Jahrhunderts (und die späteren) kennen die meisten Nürnberger schon nicht beim Namen. Geschweige denn ihre Arbeiten. Ich finde das ärgerlich und denke, die Stadt sollte da etwas ändern. Das würde auch unserem Selbstbewusstsein als Nürnberger gut tun. Es gibt aus queerer Sicht noch mehr als das berühmte ‚Männerbad‘ von Dürer zu entdecken. Hoffe ich zumindest.“ Bei Hans Sachs sei das etwas anderes. Den kenne eigentlich jeder Nürnberger vom Namen. Aber Seipel habe noch nie jemanden getroffen, der versucht hätte, oder in der Schule gezwungen worden wäre, einen Text von Hans Sachs zu lesen. „Ich muss leider zugeben, dass ich Wagnerianer bin. Aber ausgerechnet die Meistersinger empfinde ich auch als die problematischste Oper von Richard Wagner. Das Bild von Hans Sachs wird heutzutage meiner Meinung nach ausschließlich durch Richard Wagners verfremdetes und politisch genutztes Image von Hans Sachs bestimmt“, meint Spunk Seipel zu seiner Projekt-Idee. „Ich finde, das muss geändert werden und Sachs muss wieder selbst gelesen, oder gehört werden. Dass sich dazu der wunderbare gehörlose Künstler Ole Debovary bereit erklärt hat, finde ich einen wahren Glücksfall. Er bricht mit so vielen Erwartungen, das kann der Rezeption von Hans Sachs nur gut tun.“
Queere Kunst
Spunk Seipel ist 1973 in Hof an der Saale geboren, in Nürnberg aufgewachsen und lebt seit 30 Jahren in Berlin. Sein Studium der Kunstgeschichte und Betriebswirtschaftslehre sowie Erziehungswissenschaften erfolgte in Berlin, Wien und Potsdam. Er arbeitet(e) als Kurator, Journalist, Kinderbuchillustrator und Künstler. Seine eigene Gastronomie-Karriere hat er wegen dem zweiten Corona-Lockdown beendet. Aktuell baut er mit einigen anderen Aktivisten ein Kulturzentrum in einem kleinen Dorf in Nordtschechien, am Rand der Böhmischen Schweiz auf. Gegenüber des Elbsandsteingebirges auf deutscher Seite. „Schwule Kunst war immer ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Vor allem, wenn ich in Afrika aktiv war und bin. Dort gibt es noch einmal vollkommen andere Rahmenbedingungen, da besonders die ehemals sozialistischen Länder noch immer sehr homophob sind. Aber auch in Tschechien und Deutschland treffe ich immer wieder auf Schwierigkeiten, wenn Kunst von Lesben und Schwulen ausgestellt werden soll“, berichtet Spunk, der seinen Künstlernamen aus einer Kinderserie hat. „Das Wort queer macht es in diesem Zusammenhang einfach leichter. Weil noch immer sehr viele Menschen mit dem Wort nichts verbinden. Es fehlt ihm, in weiten Teilen, vollkommen an dem provokativen Element, welches die Wörter lesbisch, schwul und trans innehaben. Ob das Wort queer innerhalb der Szene eine verbindendere Funktion hat, ist eine andere Sache. Unter diesem Label gibt es zumindest viel mehr Kooperation als unter dem Label Lesbisch-schwul.“ Innerhalb der queeren Kunstszene öffnen sich aber auch Möglichkeiten für queere Künstler mit Handicap und andere, die bisher nicht beachtet worden sind. In Tschechien sehr wichtig, für Roma, berichtet Seipel über seine Erfahrungen. „Aber ich bin kein Kurator, der sich auf queere Kunst allein spezialisiert. Auch in meiner eigenen Kunst sind schwule Kunstaspekte, wie der Trash der 70er Jahre, spürbar, aber die Themen sind nicht ausschließlich schwul“.
Kunstprojekt zum CSD Nürnberg?
Sein Hans Sachs Projekt wurde erfreulicherweise vom Kulturamt der Stadt Nürnberg gefördert. Seipel sieht darin einen Beleg dafür, dass sich auch die Kulturpolitik in der Stadt Nürnberg einer queeren Aneignung der Kulturgeschichte öffnet. Über einen Kunstbeitrag zum Nürnberger Christopher-Street-Day hat er noch nie nachgedacht. „Aber ich schneide gerade an einem Trash-Kurzfilm mit der Neuköllner Sängerin Pfuschi Glas und Ole Debovary. Ein 15 Minuten Musical. Ich könnte mir gut vorstellen, die beiden nach Nürnberg zu bringen und auftreten zu lassen. Vielleicht fällt mir ja ein guter Liedtext über eine Homobratwurst ein“, scherzt Spunk. „Aber prinzipiell, ja, ich kann mir durchaus vorstellen, in Nürnberg mehr zu machen. Kuratieren oder anderes.“
Hier geht es zu den Performance-Vortrag-Videos mit Ole Debovary vom Hans Sachs Projekt:
Hans Sachs, Der Bock mit dem Wolf
Fotos: GAYCON/ Privat/ Martin Osti
Interview: NK
GAYCON März 2021