Chronologisch von oben nach unten: Kandidatin 2021, Queereinsteigerin 2020
Kandidatin
Jetzt ist es offiziell: Die Partei Bündnis 90/ Die Grünen wählte am letzten Februar-Samstag in zwei Videokonferenzen ihre Kandidaten für die Bundes-tagswahl im Herbst 2021. Für den Wahlkreis Nürnberg-Nord wurde die Landtags-abgeordnete und queer-politische Sprecherin Tessa Ganserer (43) nominiert. Ziel ist es, das Direktmandat für die Umweltpartei in der Franken-metropole zu erobern. Das aktuelle online Wahlergebnis muss jetzt nur noch per Briefwahl von den Parteimitgliedern bestätigt werden. Eine der wichtigsten Motivationen für Tessa ist es, sich für ein menschenrechtskonformes Selbstbestimmungsgesetz als Alternative zum aktuellen Transsexuellen-Gesetz einzu-setzen. „Seit meinem Coming Out habe ich weit über Bayern hinaus Zuspruch erhalten und werde regelmäßig bundesweit als Referentin zu Veranstaltungen eingeladen. Ich möchte in den Bundestag, um mich für die Rechte von schwulen, lesbischen, bisexuellen, trans*- und intergeschlechtlichen und queeren Menschen einzusetzen, damit alle ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit frei leben können, ohne Angst vor Diskriminierung oder körperlicher Gewalt haben zu müssen“, betont Tessa in ihrem Plädoyer auf der Webseite der Nürnberger Grünen. „Als erfahrene Verkehrspolitikerin möchte ich im Wahlkampf in Nürnberg aber auch auf nachhaltige Mobilität setzen und wäre auch als Waldexpertin und Försterin eine Bereicherung für die Grünen im Bundestag.“
Queereinsteigerin für Berlin
Nur wenige Wochen nach der Bayerischen Landtagswahl 2018 outete sich Tessa Ganserer (43) als erste trans*Frau in einem deutschen Landesparlament. Der entsprechende Medienrummel war gigantisch. Das war vor zwei Jahren. Inzwischen ist sie anerkannte und geschätzte Politikerin gerade in der queeren Community. Als queerpolitische Sprecherin von Bündnis90/ Die Grünen tourt sie auch auf den vielen neuen Christopher Street Days, die seit zwei Jahren überall in der bayerischen Provinz aufploppen. Nun möchte sie in die Bundespolitik und kandidiert für ein Mandat im Nürnberger Norden bei der Bundestagswahl 2021. GAYCON befragte Tessa über ihre Ambitionen für Berlin, ihre Coming out Zeit, über die Corona-Auswirkungen in der queeren Community, ob es eine/n Grünen Kanzler-Kandidat*in geben sollte und ihre Wahlheimat Nürnberg.
„Mir war klar, dass ich nicht einfach als Frau in den Landtag kommen und so tun kann, als sei nichts gewesen. Ich war mir bis zum Schluss nicht sicher, ob ich dem medialen Ansturm emotional standhalten werde und mir war bewusst, dass es auch jede Menge Anfeindungen geben wird, die in den Sozialen Medien nicht ausgeblieben sind und die bis heute anhalten. Deswegen habe ich sehr lange mit mir selbst gerungen und versucht, ein Coming Out zu umgehen. Zum Schluss war ich am Ende meiner Kräfte und wusste, ich kann so nicht mehr weiterleben“, betont Tessa Ganserer. „Dennoch bereue ich diesen Schritt nicht. Politisch wollte ich, nachdem ich bis zu meinem Coming Out so lange queerpolitisch geschwiegen hatte, mein Amt auch dafür nutzen, mich für die Belange von queeren Menschen einzusetzen.“ Neben dem Aushalten einer notwendigen Frustrationstoleranz im Bayerischen Landtag als Oppositionspolitikerin, weiß sie natürlich, dass es in Bayern noch viel zu tun gibt. Aber ihre Motivation für einen Wechsel nach Berlin liegt an der Tatsache, dass trans*Personen von allen am häufigsten eine Diskriminierung erleiden. „Hinzu kommt, dass das entwürdigende, pathologisierende Transsexuellengesetz noch immer nicht abgeschafft wurde, obwohl der Europarat die EU-Mitgliedstaaten bereits 2015 dazu aufgerufen hat, Regelungen zu schaffen, die trans* Personen eine selbstbestimmte Änderung des Personenstands ermöglichen und die Zwangsbegutachtung abzuschaffen“, berichtet Tessa. „Jahrzehntelang haben CIS-geschlechtliche Menschen, übrigens meistens Männer, in der Psychologie, der Medizin, in der Justiz und in der Politik über das Schicksal von trans* Personen bestimmt. Und da über das Transsexuellengesetz, das so viel Leid und Tränen verursacht hat, im Deutschen Bundestag bestimmt wird, habe ich mich nach unzähligen Bitten und Fragen dazu entschieden, für den Bundestag zu kandidieren. Damit dort nicht mehr länger über uns entschieden, sondern unsere Stimme auch gehört wird.“
Queere Community und Corona
Besonders die queeren Szene-Lokale treffen die Lockdown Maßnahmen wie die gesamte Gastronomie besonders hart. Tessa hofft, dass die staatlichen Hilfen ausreichen, damit diese am Leben bleiben. Für viele sind sie mehr als nur eine Kneipe. „Queere Menschen sind von den Kontaktbeschränkungen besonders betroffen, weil Sexualpartner*innen häufig nicht zusammenwohnen, die engsten Vertrauten meist in mehreren Haushalten leben. Für viele sind daher Kneipen oder Bars so etwas wie Familie“, betont Tessa. Außerdem fehlt vielen Singles mit der Schließung an Weihnachten und Silvester ein Anlaufpunkt, um mit ihrer queeren „Familie“ die Einsamkeit an den Stillen Tagen zu überwinden. Besorgt zeigt sich Tessa auch bei den queeren Jugendlichen, die noch zu Hause wohnen. Für sie sind ihre elterlichen Familien nicht automatisch Schutzzonen, sondern leider auch heute noch oft Orte der Gewalt. „Für trans* Personen war der erste Lockdown schon besonders schlimm, weil nicht nur Psychotherapie-Sitzungen ausgefallen sind, sondern auch Behandlungen und Operationen abgesagt wurden. Und mit den steigenden Infektionszahlen werden die freien Intensivbetten knapp“, berichtet Tessa. „Wir müssen dafür sorgen, dass das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Ich hoffe, dass uns das gelingt, damit nicht, wie im Frühjahr, Operationen für trans* Personen, auf die sie zum Teil mehrere Jahre warten mussten, abgesagt werden.“ Sorgen macht sie sich auch vor allem um die Weiterfinanzierung von queeren Beratungsangeboten, da in Folge der Corona-Krise den Kommunen in den kommenden Jahren Sparhaushalte drohen. Sie berichtet, dass die Grüne Bundestagsfraktion schon im Mai einen Regenbogen-Rettungsschirm gefordert hatte. „Bedauerlich nur, dass es den bis heute nicht gibt. Dabei war gerade in Bayern die queere Infrastruktur schon vor der Pandemie unterfinanziert.“
Christopher Street Days
Seit einigen Jahren ploppen überall in den mittelgroßen Städten im Freistaat neue Christopher Street Days auf. Mit Landshut sogar in der ursprünglich niederbayerischen Heimat von Tessa. „Natürlich sind die CSDs in Wien, Köln ober Hamburg spektakulärer als in der bayerischen Provinz. Aber nirgendwo auf den großen CSDs war der Geist von Stonewall so lebendig wie auf den kleinen CSDs. Stonewall war kein Eventhappening, ‚Stonewall was a Riot‘“, bekräftigt Tessa, die auch 2019 in Amberg und Ingolstadt beim jeweils ersten Städte-Pride mit dabei war. „In den 50 Jahren, seit sich in der Christopher Street zum ersten Mal queere Menschen gegen Diskriminierung und Polizeiwillkür zur Wehr setzten, hat die weltweite LSBTIQ* Bewegung sehr viel erreicht. Das verdanken wir mutigen Vorkämpfer*innen, die Diskriminierung angesprochen haben und für ihre Rechte auf die Straße gegangen sind. Auch heute noch erleben queere Menschen Diskriminierung und daher ist es ein gutes Zeichen, dass queere Menschen sich auch in ländlichen Regionen nicht mehr verstecken und für Akzeptanz auf die Straße gehen.“
Spielfeld Politik
Tessa ist im niederbayerischen Zwiesel aufgewachsen. Der Bayerische Wald vor der Tür schaffte gleich Naturverbundenheit. Darum erfolgte die Berufsausbildung als Forstwirt*in, und ein Studium mit dem Abschluss Dipl. Ing. (FH) für Wald- und Forstwirtschaft. Seit 1998 ist sie Mitglied in der Partei Bündnis90/ Die Grünen. Von 2008 bis 2018 war sie im Bezirksvorstand der Grünen in Mittelfranken. Seit 2013 ist sie im Bayerischen Landtag. Nach den aktuellen Umfragewerten liegen die Grünen bundesweit schon seit längerem bei rund 20 Prozent. Werden die Grünen zum ersten Mal in der Geschichte mit einer eigenen Kanzler*innen-Kandidatur in den Wahlkampf gehen? „Wir Grüne stehen für einen anderen Politikentwurf. Die Auseinandersetzung geht um die Frage, ob wir ein ‚Weiter so‘ wie gehabt oder den Aufbruch in eine ökologische, sozial gerechte, weltoffene und tolerante Gesellschaft wollen. Deswegen stellt sich schon lange die Frage, ob grün oder schwarz. Deswegen wäre es unangebracht, der SPD das Duell mit der CDU zu überlassen und bei den derzeitigen Umfragewerten sogar albern“, meint selbstbewusst Tessa Ganserer. „Wir haben bei unserem digitalen Parteitag Ende November ein neues Grundsatzprogramm mit fünf Grundwerten - Ökologie, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Demokratie und Frieden - verabschiedet. Wir haben nicht nur das ‚queerste‘ Grundsatzprogramm aller Zeiten, sondern auch ein parteiinternes Vielfaltsstatut verabschiedet. Natürlich wollen wir Grünen dieses Land in unserem Sinne mitgestalten. Ob es am Ende reicht, um ausreichend davon in einem Regierungsprogramm umsetzen zu können und mit wem, müssen wir nach der Wahl sehen. An erster Stelle treten wir für unsere Werte an, nicht um des Regierens willen.“
Frankenmetropole Nürnberg
Die Heimat Bayerischer Wald hat Tessa schon vor vielen Jahren gegen großstädtisches Leben eingetauscht. Sie findet, dass Nürnberg „eine beschauliche Großstadt, eine liebenswürdige Metropole“ ist. Als Hauptnaturschutzwartin im Fränkischen Albverein hat sie auch schon queere Wanderungen in die Region angeboten, zum ersten Mal beim Rahmenprogramm zum CSD Nürnberg 2020. Weil sie viel unterwegs ist, kann sie unsere queere Community in Nürnberg besonders gut einschätzen. „Im Vergleich zu München fehlt es in Nürnberg an vielem. So gibt es hier keine hauptamtliche trans* Beratungsstelle und kein queeres Jugendzentrum. Ebenso kein Angebot für queeres Leben im Alter“, betont Tessa. „Im Vergleich zu anderen Städten habe ich aber den Eindruck, dass es hier in Nürnberg einen großen Zusammenhalt innerhalb der Community gibt und das ist auch gut so und mit ein Grund, warum ich ausgesprochen gerne hier lebe.“ Ihr größter Wunsch für die queere Community in Nürnberg wäre, „dass wir aktiver und politischer werden, dass wir uns auf den Europride bewerben und Europa zeigen, dass wir es können.“
Text/ Fotos: Norbert Kiesewetter
GAYCON Dezember 2020